Warum die Schweiz so reich ist

Die Schweiz ist eine Wohlstandsinsel in Europa. Glück, Geografie, Fleiss und kluge Politik haben dazu beigetragen. Doch die Wohlstandsinsel wird ohne permanente Anstrengung nicht überleben.

Hansueli Schöchli
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Die Gründe für die helvetische Erfolgsgeschichte sind vielfältig. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Die Gründe für die helvetische Erfolgsgeschichte sind vielfältig. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

«Die Schweizer wissen nicht mehr, woher ihr Wohlstand kommt.» Solche Klagen waren in den letzten Jahren vor allem aus Wirtschaftskreisen oft zu hören, wenn das Stimmvolk an der Urne Entscheide fällte, die dem Wirtschaftsstandort nicht unbedingt dienlich waren. Das Ja zur Einwanderungsinitiative, die Zustimmung zur «Abzocker-Initiative» und jüngst die Ablehnung der Unternehmenssteuerreform sind Paradebeispiele dafür. Immerhin entscheidet das Volk in den meisten Fällen weiterhin relativ wirtschaftsfreundlich, und die Bürger sind sich bewusst, dass es nicht einfach Geld vom Himmel regnet. Indizien dafür lieferte etwa die Ablehnung der Ferieninitiative, der Mindestlohninitiative und der Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

In der Schweiz verdient man doppelt so viel

Dass solche Initiativen überhaupt allen Ernstes lanciert werden, spiegelt den enormen Wohlstand in der Schweiz. Gemessen an den Durchschnittslöhnen, verdienen die Erwerbstätigen in der Schweiz nominal etwa doppelt so viel wie im Mittel die Erwerbstätigen in den Nachbarländern (ohne Liechtenstein). Zwar sind auch die Preise in der Schweiz besonders hoch, doch unter Berücksichtigung der Preisunterschiede liegen die Löhne in der Schweiz immer noch um etwa 40% über dem Niveau der Nachbarländer. Dies zeigen die Daten der OECD, des Klubs von gut dreissig hochentwickelten Volkswirtschaften. Ähnliche Differenzen zeigen sich auch bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf der Bevölkerung.

Die Schweiz verdankt einen grossen Teil ihres Reichtums ihrer Lage in Westeuropa. Über die Ursachen des europäischen Wachstumsspurts an die Weltspitze vor allem im Zug der industriellen Revolution ab dem 18. Jahrhundert gibt es eine breite, wenn auch nicht schlüssige Forschungsliteratur. Die verschiedenen Erklärungsmuster reichen von Geografie/Klima, Wettbewerb, wissenschaftlichem Denken und Kohle bis zu «Kultur» und Institutionen. Die Kontroverse über die Bedeutung der einzelnen Faktoren hält bis heute an.

Klar scheint, dass die Schweiz viel ärmer wäre, wenn sie in Afrika statt in Europa läge. Darüber hinaus ist aber erklärungsbedürftig, warum die Schweiz auch innerhalb Westeuropas noch heraussticht. Die Wohlstandsinsel zeigt sich in den eingangs erwähnten OECD-Daten, jedoch viel weniger im von Wirtschaftshistorikern oft verwendeten Maddison-Datensatz (nach dem verstorbenen britischen Ökonomen Angus Maddison); dieser Datensatz enthält Schätzungen für mehrere Jahrhunderte zurück und verwendet für die Kaufkraftbereinigung andere Umrechnungskurse. Für internationale Vergleiche neuer Daten ist aber eher die OECD die naheliegende Adresse. Auch die regelmässigen Kaufkraftvergleiche der Löhne in verschiedenen Städten weltweit durch die UBS deuten darauf hin, dass der Schweizer Wohlstand in Europa nach wie vor heraussticht. Indirekt bestätigt wird dies auch durch die relativ starke Einwanderung in die Schweiz.

Statistische Turnübungen

Die Erklärung für den Schweizer Spitzenplatz ist im buchhalterischen Sinn einfach: Die Schweizer arbeiten relativ viel, sie sind ziemlich produktiv, und ein relativ hoher Anteil der Bevölkerung ist erwerbstätig. Doch dies ruft sofort nach der Frage, weshalb das so ist. Ein Strang der ökonomischen Forschung versucht, durch statistische Verfahren die Bestimmungsfaktoren für das langfristige Wirtschaftswachstum herauszufiltern. Dieses Vorgehen ist allerdings nicht restlos schlüssig. Das liegt an methodischen Problemen, aber auch daran, dass einzelne Faktoren je nach Zeitraum und je nach Kombination mit anderen Faktoren unterschiedliche Wirkungen haben können. Laut einer Analyse des Internationalen Währungsfonds von 2008 sind in der Tendenz folgende Umstände für ein Land wachstumsfördernd: die geografische Lage in Kombination mit einer klugen Politik zugunsten internationaler Offenheit und Wettbewerbsfähigkeit sowie zugunsten eines starken Bildungssystems.

Die Beurteilung eines einzelnen Landes kommt aber nicht ohne ein Stück Wirtschaftsgeschichte aus. Einen reichen Fundus an Material liefert hier etwa das 2012 erschienene Buch «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert», an dem viele Autoren mitgearbeitet haben. Ein eindeutiges und einfaches Erklärungsmuster für den Schweizer Erfolg lässt sich in den über 1200 Seiten allerdings nicht finden. Es gebe keine simplen Erklärungen, betont einer der Autoren im Gespräch.

So liegt die Erklärung zum Beispiel nicht einfach nur in der Unversehrtheit der Schweiz während der beiden Weltkriege. Wirtschaftshistoriker betonen, dass die Schweiz schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Grossbritannien eines der am stärksten industrialisierten Länder Europas war und um 1900 bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf der Bevölkerung bereits einen Spitzenplatz belegte. Zudem hätten nach dem Zweiten Weltkrieg kriegsversehrte Länder wie Deutschland und Belgien ihre Einbussen aus dem Krieg relativ rasch wieder wettgemacht.

Auch die These, wonach die Schweiz vor allem dank dem Bankgeheimnis und ausländischem Schwarzgeld reich geworden ist, überzeugt die Historiker nicht. Selbst in der Blütezeit des Bankgeheimnisses machte die Verwaltung unversteuerter Kundenvermögen aus dem Ausland kaum mehr als 1% bis 3% des Bruttoinlandprodukts aus. Der genannte Wälzer zur Wirtschaftsgeschichte und auch das 2016 aufdatierte Buch «Wirtschaftswunder Schweiz» verweisen auf die erstaunliche Breite von Schweizer Erfolgsbranchen.

Eine gewagte Liste

Erstaunlich ist auch, dass die Schweiz in Sachen Wohlstand in Europa ihre führende Position ein Jahrhundert lang gehalten hat. Auf Basis der Literatur und von Gesprächen mit Fachleuten sähe eine gewagte Liste möglicher helvetischer Erfolgsfaktoren vielleicht etwa so aus:

■ Offenheit. Die Schweiz war international relativ offen. Die Kleinheit des Binnenmarktes inspirierte und zwang viele hiesige Unternehmen dazu, rasch ausländische Märkte zu erschliessen. Die frühe Exportorientierung förderte Flexibilität und hielt den Produktivitätsdruck hoch. Die Schweiz hat den Strukturwandel weniger behindert als andere Länder. Zwar hat auch die Schweiz Protektionismus gekannt, und die Binnenwirtschaft war zum Teil stark durch Kartelle geprägt, doch die frühe Bedeutung des Exportsektors bildete ein Korrektiv hierzu. Zu den Kernvorteilen der Offenheit zählte auch der Import von Fachkräften: Viele Einwanderer brachten und bringen Wissen und unternehmerische Dynamik ins Land – vom Deutschen Heinrich (Henri) Nestlé bis zum Libanesen Nicolas Hayek.

■ Geografie. Die Schweiz war und ist umgeben von grossen und stark entwickelten Binnenmärkten wie Deutschland und Frankreich. Das förderte eine Arbeitsteilung, in der sich Schweizer Produzenten auf wertschöpfungsintensive Tätigkeiten konzentrieren.

■ Von unten nach oben. Die Schweiz hatte einen relativ schwachen Zentralstaat (und hat dies trotz dessen ständigem Ausbau im internationalen Vergleich noch immer). Der Wettbewerb der Kantone hielt und hält diese auf Trab. Der Aufbau «von unten nach oben» statt «von oben nach unten» hält die Staatseingriffe und die Steuerbelastung in Grenzen.

■ Neutralität. Die Neutralität half der Schweiz im 19. und im 20. Jahrhundert. Wichtige Effekte hiervon waren das Ausbleiben von grossen Kriegsschäden, die steigende Anziehungskraft für ausländisches Kapital und die Aufnahme von ausländischen Flüchtlingen – wie etwa den französischen Hugenotten, welche in der Schweiz unter anderem die Uhrenindustrie und den Bankensektor stark belebten.

■ Bankgeheimnis. Das Bankgeheimnis war nicht matchentscheidend, aber es war während vieler Jahrzehnte ein Standortvorteil. Heute räumen allerdings manche ein, dass der Privatbankier Hans Bär in seinem 2004 erschienenen Buch mit dem saloppen Spruch, wonach das Bankgeheimnis «fett, aber impotent» macht, nicht unrecht hatte.

■ Kultur/Institutionen. Diese Begriffe fassen das nur schwer Fassbare in einem Akt von Amateur-Soziologie zusammen. Im Fall Schweiz steht «Kultur» zum Beispiel für protestantische Arbeitsethik, Zuverlässigkeit, Unternehmertum, Konsensorientiertheit, Grundtoleranz gegenüber Minderheiten sowie, in den Worten der Buchautoren James Breiding und Gerhard Schwarz, «eine einmalige Balance zwischen individueller Selbstverantwortung und genossenschaftlicher Solidarität». Der Begriff «Institutionen» steht derweil für formelle Einrichtungen, die letztlich auch durch Kultur und Geschichte untermauert sind. Für die Schweiz gilt dies für Konzepte wie Föderalismus, direkte Demokratie, Konkordanz in der Regierung, Sozialpartnerschaft, Eigentumsgarantien, Berufslehre und Schuldenbremse.

■ Wirtschaftspolitik. Die Schweizer Wirtschaftspolitik war bisher relativ klug; sie stach selten durch geniale Würfe heraus, sondern eher durch den Verzicht auf den Anspruch des Genialen. Dadurch waren im Vergleich zu anderen Ländern vielleicht weniger Fehler aufgetreten und Kehrtwenden notwendig geworden. So halten sich zum Beispiel die staatlichen Interventionen am Arbeitsmarkt, in der Subventionierung einzelner Branchen oder in der Konjunkturpolitik im Rahmen.

Jedes Land ist ein Sonderfall

Die Bedeutung der einzelnen Faktoren ist letztlich kaum zuverlässig zu gewichten. Manche Faktoren waren auch in anderen Staaten präsent, die Kombination ist aber in jedem Land einzigartig – als Ausfluss der eigenen Geschichte und Geografie. Der Berner Volkswirtschaftsprofessor und ehemalige Chefökonom des Bundes Aymo Brunetti wagt trotz allem eine Gewichtung für die Schweiz: «Der wichtigste Faktor war die liberale Regulierung des Arbeitsmarkts, kombiniert mit der Offenheit der Volkswirtschaft. Die Schweiz hat einen raschen Strukturwandel zugelassen. Die Unternehmen hatten die Möglichkeit und den Zwang zu Innovationen.»

Klar ist eines: Die Wohlstandsinsel Schweiz ist nicht naturgegeben. «Wer Anfang des 20. Jahrhunderts einen relativ hohen Wohlstand hatte, stand Ende des Jahrhunderts nicht automatisch ebenso gut da», betont die Wirtschaftshistorikerin Margrit Müller, Mitherausgeberin des erwähnten Werks über die Wirtschaftsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts. «Es braucht eine andauernde Leistung und Anpassungsfähigkeit, um eine Spitzenposition zu halten», meint sie überzeugt.

Wer nach potenziellen Hindernissen für die Schweiz der Zukunft Ausschau hält, wird schnell fündig: die ungeklärte Beziehung zur EU, der Anpassungsdruck durch den sehr starken Franken, die Sonderprobleme der Finanzbranche, der Pharmasektor, der angesichts seiner ständig steigenden Bedeutung zu einem Klumpenrisiko werden kann, Zweifel an der Akzeptanz der starken Präsenz internationaler Grosskonzerne durch die Bevölkerung, der Hang, den helvetischen Wohlstand als gottgegeben zu betrachten, und die zwanghafte Besitzstandwahrung, die etwa in den jüngsten Diskussionen um die Rentenreform schon fast groteske Züge angenommen hat.

Trotz alledem ist die Schweiz für die Zukunft wahrscheinlich nicht schlecht aufgestellt. Doch ob sie auch künftig genügend anpassungsfähig sein wird, um weiterhin einen Spitzenplatz zu belegen, steht in den Sternen.

Literaturhinweise

  • Patrick Halbeisen u. a. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Schwabe-Verlag. 2012.
  • Paul Bairoch u. a. (Hg.): La Suisse dans l'économie mondiale. Librairie Droz. 1990.
  • James Breiding und Gerhard Schwarz: Wirtschaftswunder Schweiz. Verlag NZZ. 2016. (Hier können Sie die aktualisierte dritte Auflage bestellen.)
  • Beatrice Weder und Rolf Weder: Switzerland's Rise to a Wealthy Nation. Forschungspapier, April 2009.
  • Roman Studer: When Did the Swiss Get So Rich? Journal of European Economic History 2/2008.
  • Rupa Duttagupta u. a.: What Is Really Good for Long-Term Growth? IWF-Arbeitspapier, Dezember 2008.
  • Antonio Ciccone u. a.: Determinants of Economic Growth. EZB-Arbeitspapier, Januar 2008.
  • Steven Durlauf: The Rise and Fall of Cross-Country Growth Regression. History of Political Economy. 2009.
  • Sascha Becker u. a.: Causes and Consequences of the Protestant Reformation. Arbeitspapier, Dezember 2015.